Zugegeben, der Zyklus unserer neuen Reihe „Lieblingsmarken“ ist sehr weitmaschig gestrickt. Der erste Teil über das Luxuslabel Jaquemus erschien vor einigen Wochen. Wir bleiben mit der Fortsetzung in der Mode, widmen uns jedoch dem Gegenpol zur wassereissüßen, signalfarbigen Welt des Simon Porte Jacquemus. Spektakuläres Storytelling spielt aber auch in der Markenstrategie von Rick Owens die zentrale Rolle: herzlich Willkommen beim König der modisch Abseitigen.
Die im Dunkeln

Nichts ist so einfach, wie sich lustig zu machen über die Kreationen von Rick Owens. Dabei bringt der von Fans und der Vogue zum „Dunklen Fürst der Mode“ gekürte Designer den Wahnsinn der Haute Couture nur konsequent auf den Diamantnadel spitzen Punkt. Verstehen tun das freilich nur diejenigen, die diesem Wahnsinn verfallen sind. Menschen, für die Miranda Priestlys berühmte „Cerulean Speech“ aus „Der Teufel trägt Prada“ so präsent ist wie die täglich eingeatmete Luft: „Dieses Blau steht für Millionen von Dollar und unzählige Arbeitsplätze, und es ist irgendwie ulkig, dass du glaubst, damit eine Entscheidung getroffen zu haben, die dich von der Modeindustrie befreit, während du in Wirklichkeit einen Pullover trägst, der von den Leuten in diesem Raum für dich ausgewählt wurde … aus einem Haufen „Zeug“.“ Niemand kann sich außerhalb des globalen Designs stellen, sagt dieses Zitat. Unwissenheit oder vorgebliche Ignoranz zeichnet vor diesem Hintergrund lediglich den Spießer aus, dem derlei Spitzfindigkeiten zu extrem sind, weil sie seine gefällige Enge torpedieren.
Die Welt ist voller schräger Schuhe: links Margielas Tabi-Boots, im Zentrum die Flipped Flops von Mschf und rechts die Reflector Heels von Vetements
Erst pumpen, dann erregen
Als der Modemacher Rick Owens, 64, in seiner Männer-Kollektion Herbst/Winter 2024 die Models in „Inflatable Boots“ über den Laufsteg schreiten ließ, stand das Fashion-Feuilleton in seltener Eintracht mit der TikTok-Community und eben jenen Spießern Kopf. Das muss man in Zeiten von Margielas Tabi-Boots und den Flipped Flops von Mschf erst einmal schaffen. Okay, die aufblasbaren Porterville Boots, die in Zusammenarbeit mit dem Designer Straytukay entstanden und mit Gebrauchsanleitung und Pumpe kommen, kosten je nach Ausführung um und zu 5.000 Dollar. Darüber kann man sich schon mal aufregen.
Le dernier Aufreger: die Luftballon-Stiefel vom Fürsten der Dunkelheit, diesmal in Candy-Pink
Andererseits: Der gefühlt auf allen Modecovern gezeigte Silberrock aus der aktuellen Prada-Kollektion kostet 6.900 Euro, worüber sich niemand echauffiert – obwohl der Rock komplett durchlöchert ist und mehr von seiner Trägerin zeigt als verhüllt. Warum also die Aufregung um Rick Owens? Markenkern des Designers ist sein Hang zum Barbarischen, zum Fetisch, zum Melodram und zur Provokation: Knochen statt Cola-Flasche. „Wenn ich am Flughafen Plateaustiefel trage, mache ich das nicht, um heiß auszusehen. Ich tue das, um die Leute daran zu erinnern, dass ihre Schönheitsideale sehr limitiert sind. Ich erinnere Jugendliche daran, dass alles möglich ist, sogar das, was ich lebe.“, sagte Owens kürzlich selbst in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Markenstrategisch begrüße er es sogar, wenn wenige Konzerne die Trends der Modebranche diktieren. Er selbst würde vor diesem Hintergrund noch einzigartiger wirken. Doch was ist es genau, was Owens unverwechselbar macht?
Aufgeblasene Silhouetten à la Straytukay
Schweinerock to go
Ins Auge sticht zunächst seine über 30 Jahre währende Liebe und Berufspartnerschaft mit der spektakulären Michèle Lamy. Die 82-jährige Französin hat sich als Designerin, Künstlerin und Betreiberin eines legendären Hoolywood-Hangouts noch nie um Konventionen geschert. Die „Avantgarde-Matriarchin“, hat, so Owens, das Ungebügelte, Ursprüngliche seiner Ästhetik stets gefördert und noch verschärft. Owens, gebürtiger Amerikaner und aufgewachsen im kalifornischen Örtchen Porterville, wurde im kleinstädtischen Milieu auch wegen seiner Homosexualität gemobbt. Er flüchtete erst ins Bodybuilding und dann in die Transgender-Community von Los Angeles. Gemeinsam baute das Ehepaar ein Label auf, das nicht nur Mode sondern auch Möbel erschafft, die allerdings nur in XXL-Villen Platz finden. Für handelsüblich proportionierte Räume und Geldbeutelsind sie Sprengstoff.
Allein das Marmor-Bett aus dem Studio Owens dürfte die Balken konvenioneller Altbauten an ihre Belastungsgrenze bringen
Wie gut, dass die Bühnenstars dieser Welt das Owenschen Kundenportfolio zieren: Courtney Love, Beyoncé, ASAP Rocky, Taylor Swift, Kanye West und – wie sollte es anders sein – Madonna. Die Elite der Pop-Dramakings- und Queens setzt also auf den Glam aus dem Schattenreich von Rick Owens – und auf dessen Humor. Denn glamouröser und lustiger noch als seine Ballonstiefel ist die Nebelmaschine, die, mal am Schuh angebracht oder wie ein Trolley zum Rollen, seine Trägerin oder seinen Träger begleitet. Nebel ist ein billiger Effekt aus Schweinerock- und Black Metal-Shows und deshalb genau das richtige für Owens, um den Alltag mit einem heftigen Hauch Verzweiflungs-Magie à la Game of Thrones zu versehen. Unnötig? Sicherlich. Rick Owens hält genau das für zeitgemäß: „Ich präsentiere Kleidung, die so übertrieben ist, dass sie sich wie ein Protest anfühlt. Als die Nazis Frankreich besetzt hielten, war die Hutmode in Paris besonders exaltiert, geradezu lächerlich. Eine Reaktion auf die Besatzung, eine Form von Protest. Ich kann das gut nachvollziehen: etwas Lächerliches zu präsentieren in Zeiten großen Unbehagens.“
Lach mal, Mainstream
Diese Art des Protestes ist seit zwölf Jahren attraktiv auch für Mainstream-Marken. Schon 2013 startete Owens eine vierjährige Koop mit Adidas und hievte die Sneaker aus Deutschland ins hochpreisige Segment. Für Eastpak gestaltete er für seine Verhältnisse schlichte Rucksäcke und Taschen. In Zusammenarbeit mit Birkenstock entwarf Owens drei Edellatschen-Kollektionen. Ähnliche Koops gab es mit den Lifestyle-Brands Converse, Stüssy, Moncler und Dr. Martens. Selbst der etwas farblosen französischen Sneakermarke Veja half Owens stilistisch auf die Sprünge. Warum verwässerten diese Flirts mit dem Mainstream nie seine eigene Marke? Weil Owens immer wieder den Mut zu echten Underdog-Kooperationen aufbringt. Das Co-Design mit Straytukay war schon ausgesprochen nischig, aber dass er die Transgender-Technopunk-Künstlerin Sissy Misfit jüngst zu seiner Markenbotschafterin machte, ist ein klarer Beweis dafür, dass es ihm völlig egal ist, was der Mainstream denkt.
Sissy Misfit links und in der Mitte in typisch chilligen Posen, rechts unterwegs mit Herrn Owens himself (2. von links) sowie mit seiner Gattin, Madame Lamy (rechts)
Nur um einmal kurz die Verhältnisse zu klären: Misfits Insta-Account hat 6.790 Follower, der von Rick Owens 2,4 Millionen. Reichweite kann also nicht das Argument für diese Wahl gewesen sein. Der energetische, kraftvolle Look der Musikerin, von dem Rick Owens schwärmt, ist von schwarzen Schläuchen gespickte Fetisch-Provokation, die niemals massentauglich sein wird, weil sie es nicht sein will. Owens und Lamy lassen sich begeistern von dieser Art der nonkonformistischen Streetcredibility und fühlen sich genau hier zu Hause. Auch wenn Owens betont, dass sein Alltag heute vor allem aus Training, Spaziergang und ein wenig Arbeit bestünde und er die Abende mit seiner Gattin vor dem Fernseher verbringe. Wenn er es sagt, klingt auch das aufregend.
Neue Luft für Kleinstadt-Mief
Fashion-Prinzessin auf Abwegen: Anne Hathaway in Owens aufgeblasenen Kelchstiefeln
Und weil sich der Kreis damit so schön schließt, sei erwähnt, dass die Mainstream-Prinzessin Anne Hathaway, die Andy aus „Der Teufel trägt Prada“, sich jüngst in den Porterville Boots von Owens ablichten ließ. Porterville übrigens nach jener Kleinstadt benannt, in der Owens seine von Angst und Isolation geprägte Kindheit und Jugend verlebte. „Meine Karriere ist meine Art, über Scham und Diskriminierung zu spotten.“, sagt Owens. Mit seinen aufblasbaren Boots hat er den Quälgeistern seiner Vergangenheit jedenfalls einen gewaltigen Tritt verpasst. Das hat das Produkt- und Content Marketing ganze Arbeit geleistet.
Typischer Move der Coolen: Auch Miles Davis ist am liebsten mit dem Rücken zum Publikum aufgetreten. Weiterhin gute Reise, Mr. Owens
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