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Warum die heiß diskutierten Social Media-Rolemodels „Tradwife“ und „Girlboss“ sehr viel mehr gemeinsam haben, als man auf den ersten Blick vermuten würde

„Tradwife“ Hannah Neelemann entführt uns auf Instagram und TikTok ins tiefe Tal der Supermums, „Girlboss“ Kim Kardashian setzt auf Shapewear und Kosmetik: Beide Influencerinnen beantworten die zwei entscheidenden Fragen, die sich Frauen schon in 50er-Jahre-Werbeclips stellten: Was soll ich kochen? Und: Was soll ich anziehen? Die überinszenierte Selbstaufgabe der beiden nur auf den ersten Blick so unterschiedlichen Ladies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide vor allem eines sind: erfolgreiche Geschäftsfrauen.

Acht Kinder vom Storch

Man kann die prall und zart wie ein Babypopo aufgegangenen Croissants auf dem Blech förmlich riechen. Die Teig-Rohlinge glänzen in der Sonne um die Wette, kommen schließlich goldbraun aus dem Ofen, wurden am 1. Mai 2024 gepostet und haben 78.470 Likes eingefahren. Userin „Powtie“ fasst in ihrem Kommentar zusammen, was viele der 8,9 Millionen Follower *innen des Instagram Accounts @ballerinafarm denken: „Oh I wish I could get your croissants 🥐 to raise like those? I’ve purchased them numerous times and I can’t get mine to raise like that? HELP?“ Hannah Neelemann ist die Ballerina auf dieser Farm und perfekte Croissants zu backen ist ganz offensichtlich eine ihrer leichtesten Übungen. Die 33-Jährige sieht aus wie 23 und als ob ihre acht (!) Kinder vom Storch gebracht worden wären. Sie trägt seit 2023 den Titel „Mrs America“ und lebt mit ihrer Familie tatsächlich auf einer Farm in Utah, auf der die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Plastik, Neon und Hektik gibt es in dieser Welt nicht. Stattdessen: Viel rohes Holz, 1920er-Jahre Armaturen und helle Leinenschürzen, wie sie aus dem Film „Der einzige Zeuge“ in Erinnerung sind. Harrison Ford stolpert darin mitten in eine Amisch-Gemeinde, Hannah Neelemanns Familie zählt sich zu den Mormonen, das ist also keine weit entfernte Referenz.

„Mrs Supercroissant“ Hannah Neelemann überlässt auf ihrem Account @ballerinafarm nichts dem Zufall: selbst der Lichteinfall stimmt

Jawline und Margen sitzen

Fest steht: Neelemann ist nicht nur auf Instagram, sondern auch auf TikTok mit 7 Millionen Followern die erfolgreichste Hausfrauen-Influencerin der Welt. Sie ist die Königin der „Tradwives“, Abkürzung von „traditional wives“, jener digitalen Botschafterinnen des häuslichen und mütterlichen Selbstverzichts, denen Millionen junger Frauen folgen. Ja, sie schuftet und hält alles am Laufen, tut das aber so leichtfüßig-ätherisch wie eine von David Hamilton inszenierte Spitzentänzerin. Mühen sieht man ihr nicht an, die Jawline ist auch ohne Schminke wohlkonturiert, Teint und Haare sind so strahlend wie ihr allgegenwärtiges Lächeln. Dabei wird über die zur Ballerina Farm gehörenden Website weit mehr verkauft, als das konventionelle Farm-Sortiment hergibt. Eine in hübschem Pappkarton kommende Muttertags Brunch Box ab € 134,95, das klassische Sauerteig-Set für € 84,95, das Bread Bow Knife ab 37,95 oder etwa drei spindelförmige Kerzen für € 65,95. Das alles sehr professionell fotografiert und aufgemacht, hohe Margen und Geschäftssinn sind hier nicht zu leugnen. Doch wie passt das mit der ostentativen Zurückgenommenheit und Weltfremdheit der Bauernhof-Ballerina zusammen?

Mit dem Smartphone im Anschlag macht die Inszenierung der eigenen Rüschenhaftigkeit am Ärmel und im Kopf gleich viel mehr Freude – und die Möglichkeit, dass sich das Ganze amortisiert, gibt es sogar noch on top. 

Der kleine Schritt vom Girlboss zum Tradboss

Schauen wir uns zur Beantwortung dieser Frage doch die „Tradwife“-Accounts von Nara Aziza Smith, 2,7 Millionen Follower auf Instagram, 6 Millionen Follower auf TikTok, einmal genauer an. Das 23-jährige Model, superschlank und superhübsch, mit einer südafrikanischen Mutter und einem deutschen Vater in Frankfurt aufgewachsen und heute in Kalifornien lebend, hat vier Kinder. Drei davon mit ihrem Ehemann, Model Lucky Blue Smith, gezeugt und eine Tochter, die ihr Mann mit in die Ehe brachte. Auch Nara Smith steht den Mormonen nahe, bezeichnet sich aber selbst nicht als „hardcore“ praktizierend. Anyway, auf ihren Accounts sieht man sie in Designerklamotten Familienspeisen „from scratch“ zubereiten: Cornflakes werden dabei nicht einfach aus der Pappschachtel in die Schüssel gekippt und mit Milch übergossen. Sie werden von Grund auf zubereitet. Erst wird der Teig angerührt, dann werden die Flocken geformt. Bei ihrer „homemade“ Pizza ist selbst der Mozzarella handgeschöpft. Diese Form der hausfraulichen Kochkunst kostet sehr viel Zeit, ist aber nicht mit der Feier unbezahlter Hausarbeit zu verwechseln, die Frauen seit Jahrhunderten in der ökonomischen Abhängigkeitsfalle gehalten haben. Influencerinnen wie Nara Smith verdienen durch die medial attraktive Inszenierung ihres Küchenaufenthaltes nämlich genug eigenes Geld, um sich die YSL-Clutch, Kostenpunkt: 1.350 US-Dollar, die gleich nach dem Babybauch-Posting gezeigt wird, selbst kaufen können, ohne ihren Ehemann fragen zu müssen: Weil ich es mir Wert bin.

@naraazizasmith who doesn’t love bubble gum! #easyrecipes #homecooking #candy #bubblegum #fypツ ♬ O mio babbino caro (Gianni Schicchi:Puccini:Adami) – AllMusicGallery

Warum Kaugummi einfach und schnell kaufen, wenn man es doch mit viel Aufwand selbst herstellen kann? 5,1 Millionen Likes hat das Bubblegum-DIY von Nara Smith eingesammelt.

Nie ohne meine Kamera

Paradox aber wahr: Hannah Neelemann und Nara Smith haben sich mit ihrer professionell dokumentierten Hausfrauen- und Mutti-Inszenierung eine stabile Karriere und finanzielle Unabhängigkeit aufgebaut. „Tradwife“-Epigoninnen wie Alexia Delarosa (368.000 TikTok-Follower*innen), Carolina Tolstik (27.300 TikTok-Follower*innen) oder Estee Williams (190.000 TikTok-Follower*innen), die aussieht wie eine niemals groß herausgekommene Marilyn Monroe, wollen da erst noch hinkommen. Fest steht: Ohne Kamera in der Küche werden sie es nie schaffen. Deshalb sind sie einer Frau wie Kim Kardashian sehr viel ähnlicher als tatsächlichen Hausfrauen, die ihren Alltag „hardcore“ und ohne Social Media Account wuppen. Ohne Endboss-Influencerin Kardashian, die ihr Marketing-Wissen unter anderem als Stargast auf der OMR 2024 geteilt hat und der auf Instagram 363 Millionen Menschen folgen, würde es erfolgreiche Tradboss-Influencerinnen wie Neelemann und Smith mit Sicherheit nicht geben. Deshalb ist es auch zu kurz gegriffen, dass Autoren wie Jonathan Guggenberger den feministischen Backlash der Sozialen Medien ausschließlich am allzu offensichtlichen Tradwife-Trend festmachen. Selbst der kluge Artikel „How the tradwife killed the girlboss age“ des Londoner Wochenmagazins The Spectator greift zu kurz.

Kim Kardashian macht sich die Hände in Social Media nicht mehlig: Ob sie unterm Blümchenkleid den hauseigenen Nippel-Bra trägt, ist aus dieser Perspektive nicht eindeutig zu erkennen. 

Wo bitte geht’s zurück in die Zukunft?

Denn „Girlboss“-Influencerinnen wie Kim Kardashian haben in den sozialen Medien lange schon den Weg bereitet für die Feier des „Hauptsache hübsch“-Szenarios idealer Weiblichkeit, bei dem Feministinnen sich immer schon fragten: Wo bitte geht es hier zurück in die Zukunft? Auch wenn bei Kardashian die Küche wohl kalt bleibt, ist spätestens seit ihrem Nippel-Bra-Spot klar, wie sehr sie bereit ist, sich unter dem Label „weibliche Selbstironie“ zum Dummchen zu machen. Für ihre Shapewear-Marke „Skims“ zeigte sich Kardashian 2023 im Nude-Body, um ihren „Ultimate Nippel Bra“ zu bewerben: „Egal wie heiß es ist, du wirst immer aussehen, als ob dir kalt wäre“, erklärt die Influencerin mit Zeigestab vor einer Schulwandkarte. Schließlich kommt sie darauf zu sprechen, was für Frauen wirklich zählt: „Manche Tage sind hart, aber diese Nippel sind härter. Und anders als die Eisberge gehen sie nirgendwohin.“ Klimakrise? LOL! Hauptsache, SIE sieht sexy aus. Mit Shapewear und Kochlöffel kommt Frau eben durch alle Krisen.

Und die Authentizität, Honey?

Klar ist, all diese besseren Hälften überlassen die Finanzen nicht mehr den Männern, auch wenn diese erfolgreich sind. Doch sowohl Kim Kardashian als auch Hannah Neelemann tun in den Sozialen Medien so, als sei die Sauberkeit ihrer Küche und die Perfektion ihrer Kurven die Essenz weiblichen Lebensglücks.  Über Geld wird nicht gesprochen, was etwa so authentisch ist wie der Lebensstil von Carrie Bradshaw in Sex and The City, der allein durch das Schreiben einer Kolumne bestritten worden sein soll. Aber die HBO-Serie der 2000er Jahre gab auch nie vor, authentisch zu sein. Ihr Stilmittel ist die bewusste Überspitzung. Girl- und Tradbosses laden ihre Gefolgschaft jedoch sehr wohl dazu ein, via TikTok und Instagram den „Alltag“ mit ihnen zu teilen. Wie viel davon irgendwie echt oder eben perfekt inszenierte Verkaufskulisse ist, wer weiß das so genau? Beides ist tief miteinander verwoben und schafft eine Art medialen Limbus, in dem die Influencerinnen verharren, nicht ganz real und nicht ganz fake. Anders als in einer Mormonen-Community oder den Fifties ist es den Frauen dabei allerdings heute sehr wohl möglich, den Kochlöffel hinzuschmeißen, wenn sie keinen Bock mehr haben und ihren eigenen Weg zu gehen. Und vielleicht spüren die Frauen der Gen Z heute ganz genau, dass der 50er-Jahre-Firnis ohne das Erfolgsversprechen der sozialen Netzwerke als Unterbau gar nicht besonders interessant wäre.

Kleiner Nachtrag

Digitale Fundstücke können so erhellend sein: Diese Anzeige von Viva Lingerie aus den 1970-er Jahren zeigt, dass BHs mit integrierten Fake-Warzen beileibe keine Erfindung aus dem Kardashian-Powerhouse  sind. Merkwürdig allerdings, dass in den Hippie-70-ern, als es eigentlich doch ganz schick und angesagt war, ohne BH vor die Tür zu gehen, jemand von der Notwendigkeit eines solchen Modells überzeugt war – ein Wäschestück Fake-Freiheit für jene, denen die echte Variante dann doch eine Nummer zu groß war?