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Das gehypte Ich

Mittels KI wird passgenaues One-to-One-Marketing möglich. Doch was bedeutet die Hyperpersonalisierung für Contentproduktion und Storytelling?

Darum geht’s:

Was bedeutet das „Hyper“ vor der Personalisierung?

Als 2014 die Online-Fashionplattform „About You“ startete, ging sie mit der Personalisierung des Markenerlebnisses so weit, wie keine andere Brand zuvor. Wer sich bei „About You“ einloggte, bekam die Website unter dem eigenen Namen präsentiert. Das weiße „About You“-Logo auf schwarzem Grund wurde – und wird heute noch – zu „About Sonja“, „About Claudia“, „About Philipp“, je nach Vornamen der Kundin oder des Kunden.

„Hier geht es nur um dich und deine Vorlieben“, lautete das hochgehängte Versprechen, das allerdings in  Prä-KI-Zeiten ungleich schwerer zu erfüllen war als heute. „Normale“ Personalisierung basiert auf demografischen Daten wie Alter, Geschlecht und Wohnort. Hyperpersonalisierung ist eine völlig neue Zündstufe: Sie kombiniert situativ persönliche Informationen wie Social Media-Nutzung, Kaufhistorien, Geräteeinstellungen und Aufenthaltsorte in Echtzeit und passt das jeweilige Produkt- oder Serviceangebot individuell an. Deshalb sprechen einige Experten auch von „Echtzeitpersonalisierung“.

Hyperpersonalisierung konkret

Kürzlich besuchte ich eine Freundin wiederholt im Pränatalzentrum einer Hamburger Klinik. Prompt bekam ich auf Instagram äußerst stylische Baby-Tragegestelle eines skandinavischen Herstellers angezeigt. Die KI hatte nicht nur meinen Standortverlauf berücksichtigt, sondern offenbar auch mein jüngstes Kaufverhalten, denn das Gestell hatte ein Leo-Muster, genau wie ein kürzlich von mir erworbener Mantel. Auch dass ich eine großzügige Schenkende bin, floss in die Empfehlung ein, die Trage zum Umschnallen ist die Teuerste am Markt und mit Rasseln und anderen Kinkerlitzchen wurde ich nicht behelligt.

© Artipoppe

Es wird noch persönlicher

Ein weiteres Beispiel gefällig? Unsere Tochter klagt seit Wochen vehement über das viel zu geringe Datenvolumen ihres Handyvertrags. Als 1-A-Mutter checke ich beim Mobilfunkhersteller mögliche Alternativen, ein ebenso kleinteiliges wie freudloses Unterfangen. Die Rettung naht jedoch schon nach einer Minute: Per Push-Nachricht werde ich vom Anbieter darüber informiert, wie das Datenvolumen für meine Tochter „ohne zusätzliche Kosten“ zu erhöhen sei. Abends folgt eine weitere Nachricht mit einer exakten Verbrauchsanalyse: Basierend auf den letzten 12 Monaten wird mir geraten, das Datenvolumen meiner Tochter auf 8 GB zu erhöhen.

Meine Tochter favorisiert, das macht sie am Abendbrottisch klar, 10 GB. Am nächsten Tag, wieder auf der Seite des Mobilfunkanbieters, erscheint ein personalisiertes Banner mit einem exklusiven Angebot: „Verlängern Sie Ihren Vertrag um 24 Monate und sichern Sie sich 10 GB Datenvolumen pro Vertrag – ohne Mehrkosten!“ Der Tarifwechsel ist in wenigen Klicks und in nicht einmal 60 Sekunden geopferter Lebenszeit erledigt. Welche Story kann da schon mithalten?

KI kann auch emotional

Früher lautete die Antwort: die Story, die dich berührt. Doch obwohl ich weiß, dass sowohl der Geschenktipp als auch die Vertragsoptionen nicht persönlich sondern strikt datengetrieben für mich ausgewählt wurden, habe ich das Gefühl: Da hat mich jemand verstanden, wertgeschätzt und als Individuen wahrgenommen. Ich bin dankbar für die Hilfe und die Zeitersparnis und das schafft emotionale Bindung zur Marke. So schnell werde ich meinen Mobilfunkanbieter nicht wechseln und die Brand mit dem stylischen Babytragegestell halte ich nach wie vor für überaus cool. Mit derartigen Gefühlen stehe ich nicht allein da. Studien wie die von Adobe mit 2.000 Probanden durchgeführte Befragung „Make it personal. Warum sich Konsument*innen heutzutage nicht auf Stereotypen reduzieren lassen“ zeigen: Die große Mehrheit der Konsument*innen, bei Adobe sind es 87 Prozent der Befragten, wünschen sich innerhalb ihrer Altersklasse eine feinere Differenzierung basierend auf individuellen Interessen und Bedürfnissen, bei McKinsey (siehe unten) sind es 71 Prozent.

© Handelsblatt Research institute / Vision11

Hyperpersonalisierung in Unternehmen

Ein vom Handelsblatt Research Institute und Vision11 publiziertes Playbook untersucht das Potenzial und die Ansätze der Implementierung von Hyperpersonalisierungs-Maßnahmen in Unternehmen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht eine Unternehmensbefragung zum Status quo der Personalisierung. Ende Januar 2024 wurden dafür 278 Entscheider*innen mit direktem Kundenkontakt befragt, die in Unternehmen mit 100 und mehr Beschäftigten arbeiten. Die Entscheider halten die Qualität der Daten für erfolgsentscheidend, wenn es um personalisiertes Marketing geht.

Man müsste es etwas genauer fassen: Erfolgsentscheidend ist die Passgenauigkeit der Schlüsse, die die KI aus den Daten zu ziehen weiß. Ein simples Beispiel: Wenn ich mir eine Strumpfhose gekauft habe und immer weiter Strumpfhosen angezeigt bekomme, hilft das niemandem. Der Algorithmus muss mindestens so weit im Training sein, um zu checken, das Strumpfhosen weniger unter Hosen als unter Röcken und Kleidern getragen werden und mir entsprechende Produkte anzeigen. Faktoren wie „Kontinuierliche Überprüfung und Optimierung“ und „Messbarkeit entlang der gesamten Customer Journey“ zahlen auf die Lernfähigkeit der KI ein, Effekte die Entscheider*innen selbstverständlich mitnehmen wollen. Aber: Sie kosten und benötigen Personal, das mit KI zu arbeiten weiß. Damit steuern wir schnurstracks auf die Hürden bei der Implementierung von Personalisierungsmaßnahmen in Unternehmen zu.

Die Umsetzung erfolgt bereits hinsichtlich der Kommunikationskanäle und in der Markenkommunikation. Doch zu hohe Kosten, mangelnde Ressourcen aka Fachkräfte und die unklare Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen sind für die befragten Entscheider die größten Hürden. Da wir uns in einem extrem trackbaren Systemfeld bewegen und die Bedürfnislage der Konsument*innen in Studien – siehe oben – belegt ist, dürfte die wirtschaftliche Relevanz der Hyperpersonalisierung nicht mehr lange in Frage gestellt werden. Und das Geld für die Umsetzung der Maßnahmen wird durch Umshiftung in den Marketing-Etats beschafft. Und was wird wohl am ehesten als verzichtbar angesehen in Zeiten, in denen die „Hook Rate“ oder „Thumbstopper Rate“ bei Videoinhalten von durchschnittlich 1,7 Sekunden auf nur noch 0,4 Sekunden geschrumpft ist und sich Aufmerksamkeit für fesselnde Inhalte generell immer schwerer erzielen und halten lässt? Ja genau, Content Marketeers, zieht euch warm an.

Das Ich ist nicht alles

Doch halten wir kurz mal inne. Marketing, insbesondere Content Marketing, ist nicht nur das Hinterhechten hinter den Wünschen und Bedürfnissen des jeweils einzelnen Konsumenten. Es ist immer auch eine Vision von Ästhetik und einer Art, wie „Wir“ leben wollen. Bevor Steve Jobs das iPhone in den Markt hob, wusste niemand, dass er den rasenden Wunsch gehegt hatte, mit einem Telefon unbedingt auch fotografieren, einkaufen und Filme gucken zu wollen. Das traf völlig überraschend mitten ins Epizentrum der im Unterbewussten schlummernden Bedürfnislage und sorgte gerade deshalb für Begeisterung: Was für eine Idee, was für neue Möglichkeiten! Manchmal, sorry Helmut Schmidt, braucht es im Marketing ganz große Visionen für ganz große Erfolge. Visionen, die deshalb gut sind, weil sie vom Einzelnen abstrahieren und das im Blick haben, was wir uns kollektiv wünschen, aber noch nicht ahnen. Und das Ganze in eine Story packen, die Generationen überdauert: Warum fahren einige lieber Benz statt BMW, tragen andere lieber Balenciaga statt Burberry? Die Antwort liegt in visionärem Content Marketing.

Contentproduktion & Storytelling

Auch in Prozessen der Hyperpersonalisierung kann Content eine Rolle spielen. Wenn ich beispielsweise zum richtigen Zeitpunkt von meiner Lieblingsinfluencerin, die im Auftrag einer Marke unterwegs ist, auf ein Produkt aufmerksam gemacht werde, das mir hilft, ein aktuelles Problem zu lösen. Generell wird allerdings die Formel lauten: Je profaner ein Service oder ein Produkt ist, desto eher verfängt der situativ passend und in Echtzeit offerierte Produktvorschlag. Bei einer Versicherung, einer Bank oder einem Mobilfunkanbieter interessiert mich die Markenphilosophie und -story wenig. Hauptsache, der Service stimmt. Wenn es um Lifestyleprodukte geht, will ich mich jedoch in der passenden Peergroup und der passenden Story wiederfinden, gerade in maximal unübersichtlichen Zeiten. Das sorgt für Zugehörigkeit und Orientierung. Luxusmarken können beides geben, deshalb gehören sie neben den Tech-Konzernen auch nach wie vor zu den großen Gewinnern in der Welt des globalisierten Konsums.