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Alles ganz normal

In der EU leben laut Statista knapp 140 Millionen Kinder und Jugendliche. Für die meisten von ihnen ist es nicht normal, aus dem Land, in dem sie gerade leben, abgeschoben zu werden. Die Grenzschutzagentur „Frontex“ hat eine Broschüre in Auftrag gegeben, um, so der Frontex-Wortlaut, über den Prozess der Abschiebung aufzuklären und Kindern damit zu helfen. Denn was wir verstehen, können wir auch besser meistern. Neutral betrachtet ist das erst einmal ein Content Marketing-Projekt eines staatlichen Auftraggebers. Wie also wurde es umgesetzt?

In Pixi-Buch-Manier soll jede Abschiebekandidatin und jeder Abschiebekandidat erst einmal sein Büchlein personalisieren. Muss ja alles seine Ordnung haben.

Nur nicht das A-Wort

Beim ersten Durchklicken des 243 Seiten umfassenden PDFs mit dem Titel „Mein Leitfaden zur Rückkehr“ schleicht sich das Gefühl ein, dass hier nichts dem Zufall überlassen wurde, um möglichst reibungslose Abschiebeprozesse zu ermöglichen. Es gibt Varianten des Leitfadens für Kinder, Jugendliche, für Eltern und Vormünder und für unbegleitete Minderjährige. Teil des PDFs ist auch ein „Beschäftigungsbuch“ für 4–11-Jährige, das gleich in doppelter Fassung vorliegt.  In keiner dieser Varianten findet sich das Wort „Abschiebung“. Der Begriff mag ja nicht schön sein, aber er ist ehrlich, und er benennt, worum es hier geht. Wer ihn weglässt und stattdessen von „Rückkehr“ oder vom „Umzug in ein anderes Land“ spricht, erweckt den Eindruck, statt aufzuklären eher schönreden zu wollen.

Lust auf Veränderung?

Deko-Deckblatt zum Einstieg in „Mein Leitfaden zur Rückkehr“

Auch der Einstieg ist irritierend. Das Deko-Blatt auf Seite 2 der Publikation zeigt himmelblau eingefärbt lauter Kinder und Eltern, die durch die Fenster eines Flugzeugs blicken, als würden sie in den Urlaub fliegen. Ihre Mienen sind wahlweise erwartungsvoll oder neutral, die meisten lächeln. Klar, den Flug kriegen die Insassen geschenkt, das sollte doch Grund zur Freude sein. Immer wieder finden sich in der Broschüre abgezirkelte Felder, in denen die Kinder ihre Gefühle und Fragen eintragen können. Der Zusatz „Alle diese Gefühle sind normal“ beendet einen Absatz, in dem normale Gefühle beschrieben werden: Trauer und Unsicherheit angesichts der Veränderung aber auch die Freude auf das Wiedersehen mit Verwandten im Heimatland. Was, wenn das Land, aus dem die Kinder abgeschoben werden, von ihnen als Heimat empfunden wird? Was ist mit Angst und Panik? Wahrscheinlich nicht normal. Den Eltern wird im Leitfaden empfohlen, Gefühle schon zu zeigen aber auch nicht zu sehr. Ganz wichtig: „Versuchen Sie, positive Aspekte an der Rückkehr zu finden, wie beispielsweise das Wiedersehen mit Freunden und Familie.“ Und: „Wenn es beispielsweise in dem Gebiet, in das Sie ziehen, viel Kriminalität gibt, sprechen Sie darüber, was Ihre Familie tun wird, um sich zu schützen.“ Und: „Probleme können zudem auch über einen längeren Zeitraum hinweg bestehen. In diesem Fall sollten Sie in Erwägung ziehen, einen Fachmann um Hilfe zu bitten, wie etwa einen Kinderpsychologen.“ Das sind Ratschläge für Kinder und Eltern, deren großer Nachteil es ist, Staatsbürgerschaften von Staaten zu besitzen, die im Privilegierten-Ranking der Weltgemeinschaft weit unten rangieren. Kinderpsychologen gehören da nicht selbstverständlich zum Basisprogramm des liberalen Erziehungsbaukastens.

Ein ganz besonderer Escort-Service

Uiii, die Westen der Abschiebe-Begleitenden gibt es sogar in Pink – so jedenfalls zeigt es „Mein Leitfaden zur Rückkehr“ in der Kindervariante

Eingestreut ins Briefing für normales Verhalten im Abschiebefall sind spielerische Fragen und Rätsel. Beispielsweise die nach der Farbe der Westen der „Begleitpersonen“, die dafür sorgen, dass die Menschen, die das Land verlassen müssen, auch garantiert am Flughafen ankommen. Gemeint ist hier das Personal, dass die Abschiebekandidatinnen und Kandidaten zum Flughafen eskortiert. Die Frage, warum die überhaupt nötig sind, dürfte die nach der Westenfarbe weit in den Schatten stellen. Ach ja, der gleiche Escort-Service flankiert auch Unwillige, wie auf einer Illustration mit folgender Unterzeile zu sehen ist: „Möglicherweise siehst Du jemanden mit Handschellen. So sind er und die anderen sicher.“. Alles ganz normal, oder?

Die Handschellen-Sequenz in der Kinderfassung von „Mein Leitfaden zur Rückkehr“

Und noch einmal, etwas düsterer, in der Variante für Jugendliche

Die Variante des Leitfadens für Jugendliche enthält in etwa den gleichen Text wie die Kinderfassung. Den großen Unterschied machen die Illustrationen. Plötzlich haben fast alle Menschen krause, dunkle Haare und wahlweise rote, blaue, grüne und gelbe Hautfarbe. Weiß ist hier keine und keiner. Der Strich ist etwas weniger gefällig. Soll das eine hippe Reminiszenz an den Neorealismus sein? Man weiß es nicht. Das Beschäftigungsbuch schließlich soll den Abschied leicht machen. Die Kinder werden darin aufgefordert, ihre Familie und Freunde zu zeichnen und deren Kontaktdaten und Botschaften einzusammeln. Für all das ist der Platz knapp bemessen, alles in allem eine sehr traurige Angelegenheit. In der Checkliste „Dinge, die ich vor der Abreise noch tun muss“ stehen so hilfreiche Dinge wie „Alles einpacken, was ich mitnehmen will.“ Was wohl der bunte Escort-Service zu allzu vollen Taschen sagt? Abschiebung ist ja schließlich kein Wunschkonzert. Die ganz großen Sachen, die nicht einzupacken sind, sollen fotografiert und aufgeklebt werden. Alle bitte mal kurz melden, die daran glauben, dass das den Abschied erleichtert.

Zynisches Machwerk

Über den Wolken – ist die Freiheit für manch eine und manch einen leider sehr beschränkt

Am Ende der Leitfadens-Varianten ist oft ein Bild zu sehen: eine weiße Wolke vor blauem Himmel, darin der Spruch: „Niemand weiß, was die Zukunft bringt, aber eines ist sicher: Du selbst gestaltest Deine Zukunft.“ Kein Wort davon, dass mit der Abschiebung der Gestaltungsspielraum für die Betroffenen erheblich eingeschränkt wird. Kein Wunder, dass der Leitfaden kritisch aufgenommen wird. Das Netzwerk Kinderrechte zeigt sich in einer Stellungnahme im Juni 2025 „tief besorgt“: „Die veröffentlichten Materialien verstoßen gegen grundlegende Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention. Die Kluft zwischen dem formalen Bezug auf Kinderrechte und ihrer tatsächlichen Umsetzung ist eklatant und stellt eine besonders problematische Form der Missachtung des Rechts auf angemessene und kindgerechte Information dar. Weder wird Kindern altersgerecht erklärt, wie Abschiebungsverfahren tatsächlich ablaufen, noch werden ihre Schutz- und Beteiligungsrechte benannt. Stattdessen wird der Abschiebeprozess als alternativloser, beinahe harmloser Verwaltungsakt dargestellt. Diese Verharmlosung verkennt nicht nur die Realität vieler betroffener Kinder – sie ist in ihrer Wirkung kinderrechtswidrig.“ Markus Reuter spricht in seinem Kommentar auf netzpolitik.org von einer „perfiden Broschüre“, einem „zynischen Machwerk der Menschenverachtung.“ Das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e. V. (NTFN) schreibt auf seiner Homepage, dass der „Prozess der Abschiebung, der oft sehr traumatisierend ist, verharmlosend dargestellt“ werde. In einem Interview mit der gemeinnützigen Recherche-Redaktion Correctiv bemerkt der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut des NTFN Christoph Müller, dass in der Broschüre „die Zumutungen und tiefgreifende Erschütterung einer Abschiebung konsequent als etwas Positives reframed“ würden. Die Preisfrage lautet natürlich, wie man sich als Content Marketeer verhält, wenn ein Auftraggeber wie Frontex so offensichtlich in die liberal ummantelte Ruhigstellung abdriftet. Sicher, man kratzt die Kurve. Aber ist ein Auftrag wie dieser Überhaupt annehmbar?

Das Gegengift

Das fragt sich, wer die Bücher von Chimamanda Ngozi Adichie aufmerksam gelesen hat. Das Thema der nigerianischen Schriftstellerin und Aktivistin ist nicht die Abschiebung, wohl aber globale Machtverhältnisse und die Gefahren einseitiger Geschichtsschreibung und Darstellungsweisen. Diejenigen, die die Rahmenbedingungen diktieren, bestimmen in der Regel auch das Storytelling eines Landes. Im Falle des „Leitfadens für die Rückkehr“ wird den Betroffenen von Nicht-Betroffenen vorgeschrieben, welche Gefühle und Reaktion angesichts eines absoluten Ausnahmezustandes „normal“ sind. Dabei kann es diese Normalität im Abschiebeprozess gar nicht geben. Wenn Kinder den Akt der Abschiebung zu Recht nicht verstehen, wird das Verständlichmachen und vor allen das sich damit Abfinden im Leitfaden konsequent an die Eltern delegiert. Da ist Frontex offensichtlich nicht mehr zuständig. Chimamanda Ngozi Adichie empfiehlt all jenen, die Rassismus und Diskriminierung tatsächlich verstehen wollen, den Betroffenen zuzuhören, ihnen Fragen zu stellen und sich ehrlich mit den Antworten auseinanderzusetzen. Alles andere sind nur Bestätigungsrituale ohnehin verfestigter Vorurteile. Frontex geht es mit dem Leitfaden nicht um Aufklärung, sondern darum, das Abschiebungsmanagement möglichst reibungslos und jenseits öffentlicher Auseinandersetzung zu gestalten. Dazu passt, dass der „Leitfaden zur Rückkehr“ bereits 2023 publiziert wurde, erst im Juni 2025 durch ein Posting des Hessischen Flüchtlingsrates bekannt geworden ist und im Netz empörte Reaktionen ausgelöst hat.

Abflug hier entlang: So schnörkellos bebildert „Mein Leitfaden zur Rückkehr“ die zweite Seite der Variante für Jugendliche

Und wie reagiert Frontex?

Die Tageszeitung „nd“ meldete im Juli 2025, dass Frontex auf eine parlamentarische Anfrage der Linke-Abgeordneten Özlem Demirel folgendes Statement abgegeben hat: „Wir entscheiden nicht, wer zurückgeführt wird. Aber wir haben die Möglichkeit und die Verantwortung, dieses Erlebnis für ein Kind weniger angsteinflößend zu gestalten.“. Von der Broschüre seien nach Angaben von Frontex über 35 000 Exemplare in 15 Sprachen gedruckt worden, darunter Arabisch, Farsi, Albanisch, Kurdisch und Tamil. Die Gesamtkosten für Design, Übersetzung, Korrektur, Druck, Lagerung und Verteilung haben sich bislang auf rund 74 000 Euro belaufen. Die Broschüre steht in unveränderter Fassung bis heute zum Download zur Verfügung. Die Kritik-Firewall von Frontex ist undurchlässig, soviel steht fest.