In einer neuen Serie rezensieren wir unsere Lieblingsnominierungen des Best of Content Marketing 2025 und geben Prognosen zum Gewinnergold ab. Wir starten mit der Kategorie „Art of Storytelling – Film“ und der Arbeit Bahnsinn Riedbahn der Deutschen Bahn AG.
Bahnsinnige Baustelle

Das echte Leben ist unschlagbar. Im südhessischen Bobstadt, 2.844 Einwohner und „geradezu bretteben gelegen“ wie Wikipedia informiert, steht Babett Hasenpusch an der Handkurbel. Die grundsympathische, rotwangige Schrankenwärterin hätte sich kein Regisseur besser ausdenken können, mal ganz abgesehen von ihrem Namen. „Ich kenne diesen Bahnübergang seit 49 Jahren und nun das“, sagt Babett Hasenpusch durchs Fenster ihres Schrankenwärterhäuschens zu einer Fahrradfahrerin, die sich bei ihr dafür bedankt, dass sie immer so zuverlässig die Schranke hoch und wieder runter kurbelt.
Schönes Lächeln in kaputter aber irgendwie auch heiler Welt: Schaffnerin Hasenpusch
Es würde nicht überraschen, wenn die DB-Mitarbeiterin kurz nach hinten verschwindet, um Kartoffelsuppe vom Herd zu nehmen, so heimelig ist das Szenario. Alles sehr piano in Bobstadt. KI steht hier nicht für „Künstliche Intelligenz“, sondern für „Kernkompetenz Ignoranz“, denn die Sanierung des maroden Streckennetzes wurde hier gründlich verschlafen. Das checkt der geneigte Zuschauer bereits in Minute sechs der Dokuserie Bahnsinn Riedbahn, die auf YouTube und Joyn zu sehen ist. „Das jüngste Stellwerk auf der Riedbahn ist am 14.2.1982 in Betrieb gegangen, drei Tage vor meiner Geburt.“, sagt Dr. Philipp Nagl, Vorstandsvorsitzender der DB InfraGO AG. „Das glaubt einem später keiner mehr, dass die Handkurbel bei uns noch 2024 in Betrieb war“, schüttelt ein beschämter Anwohner beim Resignationsbier den Kopf.
Deutsche Effizienz? Vergiss es!
Damit der Bobstädter wieder hoch erhobenen Hauptes durchs Hessische spazieren kann, hat Philipp Nagl die Generalsanierung der Riedbahn in Auftrag gegeben: Fünf Monate Vollsperrung zwischen Mannheim und Frankfurt/Main, statt der täglichen 300 Züge werden Bagger, Baumaschinen und Busse übernehmen.
Er muss Nachsitzen für die Streckensanierung: Dr. Philipp Nagl, Vorstandsvorsitzender der DB InfraGO AG
Danach sollen Strecke und Stellwerke neu in vollelektronischem Glanz erstrahlen. Dokumentiert wird das Mammutprojekt in der siebenteiligen Doku, die als klassische Heldenreise angelegt ist. Um klarzumachen, auf welch marodem Level die Odyssee beginnt, stimmen uns schon in der ersten Folge österreichische Sirenen ein: „Die Deutsche Bahn ist sowas von im Oasch.“, skandieren aus Austria angereiste Fans der Fußball-EM, die in deutschen Bahnhöfen auf Züge warten, die irgendwie nicht ankommen wollen. Die EM endet am Vorabend des Startschusses zur Riedbahnsanierung. Das Eingangszitat der Doku stammt aus der New York Times: „Euro 2024 und deutsche Effizienz: Vergessen Sie alles, was Sie zu wissen glaubten.“ Tiefer kann der Keller kaum sein, aus dem die 226.000 Vollzeit-Odysseusse der DB steigen müssen, um ihre Heldenreise antreten zu können.
Einsatz KI-Johannes
Bobstädter Anwohner mit Resignationsbier: „Irgendwie alles marode“
Die Kombination niederschmetternder Kommentare aus Sozialen und anderen Medien mit grundsoliden Menschen aus dem Sanierungskosmos der DB zieht sich als stilprägender Kniff durch die 210 Minuten der kompletten Doku. Folge 2 startet mit einem Song: „Was bei der DB abgeht, ist so eine peinliche Katastrophe“, „eine Verhöhnung der Kunden“, „Oh Deutsche Bahn, du fährst mein Herz, manchmal langsam, manchmal mit Schmerz“ und „das ist alles nur Flickwerk“ hören wir jemanden mit der Stimme von Johannes Oerding singen. Der Text stammt aus echten Beschwerde-Mails an die DB, die Stimme liefert ein KI-Johannes. Zum Song sehen wir eine divers-sympathische Crew behelmter Bauarbeiter, eine schwer atmende Schaffnerin, die am Ende eines langen Tages ein Taxi (!) nimmt, ein auf dem Kopf stehendes Bahnhofsschild und jede Menge mitleidig lächelnder Kunden. „Eine deutsche Baustelle“ lautet der Untertitel der Doku und tatsächlich funktioniert die Riedbahnsanierung als Metapher für ein ganzes Land: „Unsere Autobahnen sind marode, die Brücken sind marode, ich finde auch, die Gesellschaft ist irgendwie marode, der Umgang untereinander ist marode“, sagt der Bobstädter in der Kneipe. Das Weizenglas neben ihm ist halb voll oder halb leer, je nachdem. Im Intro jeder Folge tickt laut eine Uhr, läutet sie den Todeskampf der Bahn oder ein neues Zeitalter für Deutschland ein? Dieser große Bogen könnte als überzogen gewertet werden, wirkt jedoch durchaus Dramatik steigernd.
Und das Ende vom Ried?
Weichen, Signale, Gleiskreise: Man lernt durchaus dazu in der bahnsinnigen Doku
Von Folge zu Folge begleiten wir wackere Streckenerneuerer, die schier nicht zu bewältigende Prüfungen wie Gutachtenschlachten, „auf Kante genähte“ Teams und Krankheitsausfälle zu bewältigen haben. 250.000 bis eine Millionen Views haben die Folgen auf YouTube, wieviel davon Paid ist, wissen wir nicht. Doch da es Menschen gibt, die freiwillig Trainspotting betreiben, also hobbymäßig Züge beobachten, und 22 Euro Eintritt in die Eisenbahnanlage Miniaturwunderland zahlen, darf von einer Faszination fürs Thema ausgegangen werden. Und die Dranbleiber werden mit einer sehr gut gefilmten und dramatisch versiert geschnittenen Doku belohnt, in der man viel lernt über die zu schließende Lücke zwischen einer verlotterten und einer zukunftstauglichen Bahn. Wie detailverliebt das Ganze gestaltet wurde, ist schon an den Titeln der Folgen abzulesen: von „Late in Germany“ über „Herkules und die Fledermaus“ oder „Beziehungsstatus: kompliziert“ bis zum finalen „Spiel mir das Lied vom Ried“ sitzt hier alles. Achtung: Der letzte Titel kann in seiner Doppeldeutigkeit für Freude oder Versagen stehen – gespoilert wird hier nicht. Schließlich lohnt es sich wirklich, die Miniserie durchzuschauen.
Unsere Goldprognose
Darf gejubelt werden im südhessischen Bobstadt?
Neben „Bahnsinn Riedbahn“ sind beim diesjährigen bcm in der Kategorie „Art of Storytelling – Film“ noch drei weitere Arbeiten nominiert. „Keine Geschenke, kein Problem – denn budni rettet Weihnachten“ ist ein Feiertags-Clip der norddeutschen Drogeriekette Budnikowski. Das Storytelling des Clips stammt, so ist es im knapp dreiminütigen Spot zu sehen, von Kunden, die in einer Hamburger Filiale befragt wurden. Ihre Ideen zum Clip werden visualisiert und zwischen die Interviewpassagen geschnitten. Recht harmlos das Ganze und eher eine Werbung für Agenturen, die Storytelling wirklich beherrschen, als für die Drogeriekette selbst. Mit #ALDIstory – Alle haben eine. Erzähl uns deine erzählt Aldi Süd „echte Stories“, die von Kund*innen eingesammelt wurden. Familie Sauer fährt mit 10 Kilo Pasta von Aldi in den Urlaub, Can besucht aus Deutschland kommend seine Familie in Izmir und beglückt diese – was kann es Schöneres geben? – mit einer randvollen Tasche mit Nussknacker-Schoko von Aldi, Sedef Adasis startet ihre internationale Karriere als DJane mit einem MP3 Player von, na?, Aldi natürlich. In jedem Clip sprechen die Protagonist*innen die User*innen direkt an und betonen, dass es sich um echte Geschichten handelt. Alles in perfekter Glätte umgesetzt, die leider den authentischen Anspruch konterkariert. Wenn etwas so gebügelt und pickellos daherkommt, soll einem garantiert etwas verkauft werden: Das haben wir Zuschauer*innen doch bereits gelernt. Die Nummer vier stammt erneut von Aldi: ALDI SÜD – Liebe geht durch den Magen und noch viel weiter ist ein Einminüter mit Manschepantsche-Essens-Intermezzi unwilliger Kids zum Vater- und Muttertag. Auch das von der Agentur „antoni 99“ perfekt umgesetzt, nicht mehr und nicht weniger. Das kann gegen die Langstrecke der DB, die tatsächlich 210 Minuten zu fesseln weiß, nicht ankommen. Deshalb unsere Prognose: Gold für Babett Hasenpusch und ihre 225.999 DB-Kolleg*innen.
Alle Abbildungen in der Rezension sind Stills aus der Miniserie Bahnsinn Riedbahn.